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Die Prinzipien von Ofarins Unterricht

 

OFARINs Unterricht soll erfolgreich sein. Das ist natürlich unser Ziel. Zunächst denkt man dabei an technische Voraussetzungen: Die Lehrkraft und alle ihre Schüler müssen sich gut sehen und auch hören können. Alle Schüler müssen aber auch die Tafel und alles, was darauf zu sehen ist, von ihrem Platz aus gut erkennen können. Die Lehrkraft muss darauf achten, dass ihre Schüler entsprechend sitzen und diese gegebenenfalls umsetzen.

In Afghanistan trifft man oft Paare von Menschen, in der eine Person dominiert und die andere Person die erste Person bewundert – Freundinnen, Geschwister, … . Im Denken ist die zweite Person von der ersten abhängig. Wir wollen aber, dass unsere Schüler selbständig denken und handeln. Die Lehrkraft ist gehalten, solche Paare auseinander zu setzen.

Ein Problem, das auch in Deutschland oft nicht rechtzeitig erkannt wird, sind Sehschwächen von Schülern. Der Schüler und seine Eltern wissen oft nicht, dass der Schüler nicht gut sehen kann. Er hat ja keinen Vergleich, weil er nie „richtig“ gesehen hat. Aber im Lehrbuch und an der Tafel kann er nicht unterscheiden, ob da ein m oder ein n geschrieben steht. OFARIN hatte deshalb früher in allen Schulklassen Reihenuntersuchungen durchgeführt und dafür gesorgt, dass sehschwache Schüler Brillen erhielten oder sogar operiert wurden. Das werden wir in diesem Jahr von Neuem beginnen.

Im Klassenzimmer muss jede Schülerin und jeder Schüler sicher sein, dass er oder sie nichts erlebt, das peinlich, unerfreulich oder gar schrecklich ist. Die Prügelstrafe, die in afghanischen Schulen üblich ist, gibt es bei OFARIN nicht. Wer fürchtet, vor seinen Mitschülern erniedrigt zu werden, kann nicht aus sich herausholen, was in ihm steckt. Wer Angst hat, kann keine Routinen erlernen, erkennt keine neuen Zusammenhänge und kann sich nicht konzentrieren, um nach Lösungen von Problemen zu suchen.

Sprechen Sie mal mit einem afghanischen Familienvater über seine Kinder! Er wird berichten, dass die meisten, wenn nicht alle, die Klassenbesten sind. Das ist natürlich Unsinn. Aber für den Vater gehört der Schulerfolg der Kinder zur Ehre der Familie. Diese Ehre ist das allerwichtigste Attribut der Familie. Und nun stellen Sie sich vor, dass einem Kind der Familie bescheinigt wird, dass es alles andere als der oder die Klassenbeste ist, sondern dass es nicht versetzt wird! Das ist eine Katastrophe für die Familie und natürlich auch für das Kind! Das wird noch und noch verprügelt. Aber ein guter Familienvater muss mehr für die Familienehre tun. Es liegt nahe, dass er die Lehrkraft unter Druck setzt. Sie soll das Kind doch noch versetzen, auch wenn das etwas kostet. Eine Lehrkraft die nicht kooperiert, lebt gefährlich. Tödliche Verkehrsunfälle und Ähnliches sind dann nicht mehr auszuschließen.

Als ich vor der Frage stand, wie wir es bei OFARIN mit Versetzen und Sitzenbleiben halten sollen, hatte ich schon einiges gehört, was Lehrern und Professoren in Pakistan und Afghanistan passiert war, die Schüler oder Studenten hatten durchfallen lassen. Die Ehre der Familie konnten wir nicht abschaffen. Aber Schüler, die den Stoff eines Abschnitts nicht gelernt hatten, konnten wir nicht für den Unterricht im nächsten Abschnitt zulassen. In Deutschland kann man etwas großzügiger sein. Dort machen Lehrer mit schwächeren Schülern einen etwas anderen Unterricht als mit guten. Aber OFARINs angelernten Lehrkräfte können nur Schüler unterrichten, die etwa den gleichen Kenntnisstand haben. Was also tun?

Wir haben die klassenweise Versetzung eingeführt. Wenn eine Klasse einen Abschnitt durchgenommen hat, wird sie von einer Kommission von Trainern besucht. Sieht die Kommission, dass alle Schüler den Stoff beherrschen, wird die Klasse versetzt. Sie darf mit dem Unterricht des nächsten Stoffabschnitts beginnen. Sind aber einige Schüler noch recht schwach, wird das mit der Lehrkraft besprochen. Sie muss dann Stoff wiederholen und immer wieder schwachen Schüler befragen. Nach etwa drei Wochen besucht die Trainer-Kommission die Klasse abermals zwecks Versetzung oder eben nicht.

Diese klassenweise Versetzung bedarf noch einiger Verbesserungen. Was unterrichtet die Lehrkraft, wenn ihre Klasse nicht versetzt wurde? Hier müssen wir geeignete zusätzliche Aufgaben zur Verfügung stellen. Manchmal träumen wir davon, dass besonders gute Schüler schwächere Schüler zusätzlich unterrichten.

Das klassenweise Versetzen zeigt, dass OFARIN ein System von Jahrgangsklassen nicht durchhalten kann. Wenn eine Klasse versetzt wird, die „Parallelklasse“ aber nicht, sind die Klassen keine Parallelklassen mehr. Solche Unterschiede schafft schon der normale Unterricht. Wir wollen, dass alle Schüler möglichst alles verstehen. Wie oben erklärt, benötigen unsere Lehrkräfte möglichst homogene Klassen. Wir müssen damit leben, dass die Klassen für den gleichen Schulstoff verschieden viel Zeit benötigen.

Aber wie kann eine Lehrkraft die Schüler dazu bringen, schneller zu arbeiten oder bessere Leistungen zu erzielen? Sie sollte es nicht versuchen. Die Lehrerin oder der Lehrer müssen sich klar ausdrücken. Sie müssen sich vergewissern, dass die Schüler alles verstanden haben. Sonst sollte sich die Lehrkraft auf das Lehrbuch und die Möglichkeiten der Schüler verlassen.

Der Unterricht selbst gibt jedem Schüler Möglichkeiten, schöne Erfahrungen zu machen. Im Muttersprachenunterricht wird ein Satz behandelt, in dem der neue Buchstabe und einige längere Wörter vorkommen – ganz schön knifflig. Alle brüten. Aber jetzt hat einer den Satz verstanden, dann zwei, drei, vier andere und nach drei Minuten fast die ganze Klasse. Das hat etwas Aufbauendes. Noch vor zwei Wochen hätte diesen Satz keiner geschafft.  

OFARINs Personal stöhnt schon lange über den Muttersprachenunterricht. Jeder Buchstabe wird nach dem gleichen Schema behandelt. Unsere Trainer stellen im Seminar den angehenden Lehrkräften die immer gleichen Fragen. Aber für die Kandidaten im Seminar und für die Schüler im Unterricht ist alles neu. Die Schüler können Woche für Woche mehr lesen. Sie sehen zu, wie Ihr Können wächst. Das erfüllt sie mit stiller Freude.

Intensivere Erlebnisse können Schüler im Mathematikunterricht haben. Wer nach heißem Bemühen plötzlich die Lösung eines mathematischen Problems findet, bei dem schlägt ein Blitz ein und entzündet ein unvergleichliches Freudenfeuer. Einen Abglanz dieser Freude erlebt auch der, der selber nicht die Lösung findet, aber die Lösung versteht, wenn sie erklärt wird. Viele Erkenntnisse längst verstorbener Mathematiker können bei uns Heutigen noch diese Freude über das Begreifen auslösen.

Ganz vorne in [OFARINs Unterricht] wird berichtet, dass wir nach der Umstellung „Alphabetisierung vor Mathematik“ knackige Textaufgaben stellen konnten. Damit begannen wir in unserem Projektgebiet in der Provinz Logar. Unsere Schüler dort waren hell begeistert. Mira Khan, unser unvergessener Leiter in Logar, kam euphorisch nach Kabul und erzählte, dass junge Mädchen, die unseren Unterricht durchlaufen hatten, ihre kleinen Brüder, die noch bei uns lernten, drängten, ihnen unsere neuen Lehrbücher zu besorgen. Sie wollten auch die neuen knackigen Aufgaben lösen. Ich habe in Deutschland als studentische Hilfskraft und Assistent jahrelang Mathematikübungen zusammengestellt und unterrichtet. Den Glückskick, den das Lösen schweren Aufgabe bewirkt, habe ich oft beobachtet und selbst erlebt. Auch bei Schülern von OFARIN ist der Blitz der mathematischen Erkenntnis schon eingeschlagen.  

Sicher ist nicht jede Mathematikaufgabe geeignet, helle Begeisterung bei denen auszulösen, die sie bearbeiten. Es gibt viele mathematische Routinen, die durch Wiederholung von immer Ähnlichem eingeübt werden müssen. Eine gewisse Zufriedenheit darüber kann der Schüler daraus gewinnen, dass er ein Verfahren beherrscht. Diese Einsicht kann die Lehrkraft bewusst machen und verstärken: „Seht mal, was Ihr könnt! Vor einem Monat hättet Ihr das für unmöglich gehalten.“ Doch im Mathematikunterricht sollten möglichst oft auch knackige Aufgaben gestellt werden. Sie sind nicht das Salz der Suppe. Sie gehören zum Wesen des Faches.

Der Unterricht war bei den Schülern beliebt. Auch die Lehrer arbeiteten gerne. Wie sehr sie uns verbunden waren, erlebten wir in Zeiten, als unsere Einkünfte schlecht waren. Da arbeiteten viele unserer Lehrkräfte und verzichteten auf ihre Einkünfte. Überhaupt spielt Geld eine sehr geringe Rolle zwischen OFARIN und seinen Beschäftigten im Unterrichtsbereich. Andere Organisationen zahlen recht hohe Gehälter und lösen ihre Mitarbeiter dadurch aus den sozialen Strukturen, in denen sie bisher lebten. Wir glauben den Menschen dadurch keinen Gefallen zu tun, abgesehen davon, dass wir es nicht bezahlen können. Dafür hat sich OFARIN bei wirklichen Notlagen von Familien unserer Schüler, Lehrer und Trainer immer auch wirtschaftlich engagiert, nicht nur zu Corona-Zeiten. Es ist ein Gefühl dafür gewachsen, dass man sich aufeinander verlassen kann.

Die Frage, ob für OFARIN Kontrolle oder Vertrauen besser sei, kann man allein mit ökonomischen Argumenten beantworten. Kontrolle setzt voraus, dass sie nötig ist. Aber wo Kontrolle einsetzt wird sie ausgetrickst und zwingt zu immer kleinteiligerer und aufwendigerer Schnüffelei. Sie wird immer teurer. Die Arbeit, die dank Kontrolle und Zwang verrichtet wird, hat niemals Spitzenqualität. Wenn dagegen ein Mensch arbeitet, der das gerne tut, weil er durch seine Arbeit etwas für seine Mitmenschen erreicht und weil er deren Achtung genießt, nähme wir ihm die Würde seines Tuns, wenn wir ihn kontrollierten. Wenn wir Probleme mit einer Lehrkraft oder einem Trainer haben, sprechen wir mit der Person darüber. Wir gehen dann davon aus, dass er – genau wie wir – bestmögliche Ergebnisse erreichen will. Meistens geht es dann bald nur um einige eher technische Fragen, über die wir uns schnell einigen. 

Dank des Geflechtes von Schülern, Eltern, Lehrern und Trainern wissen wir ganz gut, was überall in unserem Namen geschieht. Das ist keine systematische Kontrolle. Grobe Fehlentwicklungen haben wir aber dadurch erkannt und entschlossen abgestellt.

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